Beginnen wir mit einer kleinen Geschichte, die zu schön ist, um wahr zu sein:

Der Rhein versorgt Millionen Menschen mit Wasser. Vom Alpenrhein im Schweizer Kanton Graubünden bis hin zum Niederrhein vor dem Mündungsdelta in die Nordsee wird das Trinkwasser allerdings auf sehr unterschiedliche Weise gewonnen.

Die kleine Heidi und ihr Großvater, der Alm-Öhi, die in Graubünden wohnen, trinken direkt aus einer kristallklaren Quelle, die in der Nähe ihrer Alm entspringt. Die Menschen am Niederrhein hingegen bekommen ihr Trinkwasser zum größten Teil aus dem Uferfiltrat des Rheins, der dort viele Abwässer, auch aus Galvanikbetrieben, mit sich führt. Dieses Wasser wird zwar über viele Stufen sorgfältig aufbereitet und ständig überwacht, ist aber mit frischem Quellwasser nicht vergleichbar.

Deshalb haben sich einige Menschen vom Niederrhein an Heidi und den Alm-Öhi gewandt und die beiden gebeten, ihnen ihr Quellwasser zu widmen und diesem ihre guten Wünsche mit auf den Weg zu geben, natürlich gegen ein kleines Entgelt.

So strömt nun aus einigen Wasserhähnen am Niederrhein Öko-Uferfiltrat mit gefühlter Graubündner Alpin-Naturfrische. Man muss nur daran glauben.

Was am Beispiel der Wasserversorgung völlig absurd erscheint, ist in Analogie bei der elektrischen Energieversorgung reale Praxis. Gestandene Unternehmer und gewiefte Manager lassen sich (gerne) weismachen, dass der übliche Fossil-Nuklear-Regenerativ-Strommix aus der Steckdose durch den Einkauf über einen Ökostrom-Anbieter als klimaneutral etikettiert werden kann. Das Faszinierende an dieser Art Ökostrom ist, dass er auch dann noch ungestört fließt, wenn nach längerer Dürre die Talsperren halb leer sind und in windstillen Nächten Wind- und Solarparks eine Verschnaufpause einlegen.

Aber die Magie geht noch weiter. Das CO2 aus den Verbrennungsmotoren der hubraumstarken Firmenfahrzeuge kann viele tausend Kilometer entfernt durch Wald-Aufforstungen in Asien, Afrika und Lateinamerika aus der Atmosphäre entfernt werden! Kompensation heißt dieser Zaubertrick und er kann sogar gelingen, wenn das Holz aus diesen Forstprojekten niemals verbrannt oder verbaut wird und auch nicht nach dem natürlichen Absterben der Bäume verrottet. Das Holz muss lediglich für ein paar Jahrmillionen außerhalb der Biosphäre sicher und unzugänglich gelagert werden. Leider geben die Anbieter solcher Kompensationen gerade dafür keine Garantie.

Klimaneutralität durch Ökostrom-Umetikettierung und CO2-Kompensation ist bei näherem Hinsehen reines Greenwashing, nur eine grüne Tünche über die gewohnten Verhältnisse, die schnell verblichen und abgewaschen sein wird, wenn der Klimawandel über die gegenwärtigen Anfangserscheinungen hinaus an Wucht gewinnt.

Bis es so weit ist, wird das Thema Klimaneutralität noch schnell von der Zertifizierungs-Industrie abgemolken. Das Geschäft mit der Angst ist immer schon renditestark gewesen, das werden sich die Prüforganisation nicht entgehen lassen. Ein Heer von Beratern wird sich die Taschen füllen.

Ein Klimaneutralitäts-Zertifikat als Trostpflaster für gewissensgeplagte Seelen, dabei darf es aber nicht bleiben. Nur durch eine allgemeine gesetzliche Verpflichtung geht etwas voran, erst wenn es nur noch ausschließlich Ökostrom und Biokraftstoffe zu kaufen gibt, befinden wir uns auf dem richtigen Weg. Das Ziel wird erst dann erreicht sein, wenn weltweit nur noch die Energiemenge verbraucht wird, die im gleichen Zeitraum neu gebildet wird.

Der freie Markt hat die gegenwärtigen Probleme geschaffen, weil er nur in der Gegenwart funktioniert. Er plündert hemmungslos die Vorräte aus der Vergangenheit und hat keinen Haushaltsplan für kommende Zeiten. Will die Menschheit eine Zukunft haben, dann darf sie nicht mehr nur verschwenderisch im Hier und Heute leben und Zügellosigkeit mit Freiheit verwechseln. Sie muss den Aufstieg auf eine höhere Stufe der menschlichen Zivilisation schaffen, auf der kluger Verzicht als Fortschritt gilt.

Machen wir uns auf den Weg dorthin.